Teilnehmenden den Weg zu Lernangeboten erleichtern

Teil 2: Interview mit Lesen und Schreiben e.V.

Wenn es um die Förderung von Menschen mit Grundbildungsbedarf geht, liegt eine besondere Schwierigkeit darin, diese gezielt anzusprechen und für die Teilnahme an Lernangeboten zu motivieren, eine Aufgabe, die auch in den geförderten Projekten von GrundbildungsPFADE eine zentrale Rolle spielt.

Das folgende Interview ist Teil einer Serie, die zeigt, wie die Projekte Netzwege und Berko bei der Teilnehmendengewinnung und Bedarfserschließung für ihre Grundbildungspfade vorgehen. Die Projekte berichten über Vorgehensweisen, Ansprachestrategien, spezifische Zugänge zu ihren Zielgruppen sowie Praktiken für die Bedarfsermittlung, und geben damit praktische Einblicke in sozialraumorientierte, aufsuchende und arbeitsorientierte Ansätze. Im dritten Teil der Serie berichtet Dr. Johannes Bonnes, wie das Kompetenzzentrum die praktische Arbeit der geförderten Projekte begleitet und unterstützt.


Lesen und Schreiben e.V. ist einer von drei Kooperationspartnern. Gemeinsam mit Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg gGmbH und der Stiftung Grundbildung Berlin gestalten sie das Projekt „Berliner Kooperationsverbund Arbeitsorientierte Grundbildung“ (BerKo).

Das Projekt BerKo hat zum Ziel, einen Kooperationsverbund zur Arbeitsorientierten Grundbildung aufzubauen, der auf lange Sicht nachhaltig wirkt und sich selbst trägt. Die Aufgabe ist es u. a., Verbundakteure besser zu befähigen, passgenaue Angebote zu bieten. Die jeweilige Expertise von Berko kann von Betrieben, Beratungsstellen, Bildungsanbietern angefragt werden. Sie bieten Fachgespräche, Qualifizierungen und ggf. ergänzende Ressourcen. Die projektbezogene „Teilnehmendengewinnung“ von Berko richtet sich in erster Linie an Betriebe und Organisationen.

Lesen und Schreiben e.V. (LuS) arbeitet als Bildungsträger direkt mit der Zielgruppe der gering Literalisierten und führt Lernangebote durch. In dem folgenden Interview berichten sie über Ansprachestrategien und generelle Herausforderungen bei der Teilnehmendengewinnung im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung.

Wie gehen Sie bei der Teilnehmendengewinnung für Ihr Projekt vor?

Für die Gewinnung von Teilnehmenden ist es grundlegend, ein attraktives und niedrigschwelliges Angebot zu schaffen. Unsere kostenfreien Kurse bieten eine freundliche und wertschätzende Atmosphäre, in der sich die Zielgruppe willkommen und sicher fühlt. Das sollte in der Außenkommunikation sichtbar sein und wenn Menschen uns kontaktieren auch so erlebt werden. Für diejenigen, für die unser Angebot nicht passend ist, bemühen wir uns, Alternativen anzubieten, um sie in ihrem Wunsch, einen Kurs zu besuchen, bestmöglich zu unterstützen. Zentrales Ziel ist es, die Motivation der Personen, die sich auf den Weg gemacht haben, zu erhalten.

Wir achten auf Kontinuität und Verlässlichkeit, z.B. durch Ortstreue, zentrale Telefonnummer und feste Ansprechpersonen.

Bei der Öffentlichkeitsarbeit setzen wir auf vielfältige Wege. Mundpropaganda spielt eine entscheidende Rolle. Neben Multiplikator:innen sind vor allem die aktuellen und ehemaligen Teilnehmenden von zentraler Bedeutung. Sie können aus einer anderen Position heraus Betroffene in ihrem Umfeld direkt ansprechen und außerdem einen Einblick in unser Angebot geben. Wer möchte, kann unsere Flyer nutzen, die die wichtigsten Informationen über das aktuelle Kursangebot einfach darstellen und sowohl analog als digital zur Verfügung stehen. Ergänzend informieren wir über Instagram, Facebook und unsere Webseite, wo wir regelmäßig Einblicke in unsere Arbeit geben. Gerade zu Beginn eines neuen Lernangebotes senden wir Rundmails an unser Netzwerk, insbesondere an Kontaktpersonen in Jobcentern und Beratungsstellen, und bitten um Verbreitung der Infos. Auch Plattformen wie Nebenan oder Kleinanzeigen können bei der Akquise sinnvoll sein.

Online sind wir leicht über die Google-Suche zu finden – der Name Lesen und Schreiben e.V. spielt uns dabei in die Karten. Besuche von Fachveranstaltungen und die Sensibilisierung von Multiplikator:innen – sei es am Telefon oder durch Beiträge auf Veranstaltungen – helfen ebenfalls, die Problematik generell und unser Angebot weiter bekannt zu machen.

Darüber hinaus sind wir im Alfa-Telefon gelistet und in Berlin im Grundbildungsatlas der Stiftung Grundbildung Berlin. Für die Vernetzung und Sichtbarkeit in Berlin-Neukölln, wo Lesen und Schreiben e.V. seit seinen Ursprüngen 1983 seine Räumlichkeiten hat, sind wir im Alphabündnis aktiv. Dort treffen wir uns regelmäßig, informieren uns und organisieren Aktionen für die Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung rund um das Thema Grundbildung im Bezirk. Für Aktionen im öffentlichen Raum buchen wir sehr gerne das Alfa-Mobil des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung.

In der direkten Nachbarschaft arbeiten wir mit lokalen Einrichtungen wie den Quartiersmanagements oder den Stadtteilmüttern zusammen und nehmen an Straßen- und Kiezfesten teil. Flyer haben wir immer in der Tasche. Grundbildung ist ein Querschnittsthema, daher haben wir auch andere Bereiche und Netzwerke im Blick, von Jobcoaches über Beratungsstellen, Bibliotheken, Gesundheitszentren bis zu Verbraucherzentralen. Je nach Gelegenheit und Ressourcen sensibilisieren wir und machen Lernangebote bekannt.

So schaffen wir es, unterschiedliche Menschen auf unsere Angebote aufmerksam zu machen und Betroffenen den Weg in unsere Kurse zu erleichtern. Aber: Teilnehmendengewinnung geht einher mit der gesellschaftlichen Sensibilisierung für geringe Literalität allgemein – sie ist Handarbeit.

Gibt es besondere Ansprachestrategien bzw. spezifische Praktiken oder Zugänge zu den drei Zielgruppen (gering literalisierte auf Arbeitssuche, von Ausbildungsabbruch gefährdete gering literalisierte Auszubildende und durch Arbeitsplatzverlust bedrohte gering literalisierte Beschäftigte)? Wessen Unterstützung ist notwendig, um diese zu erkennen, zu erreichen und zu motivieren?

Als Grundbildungsträger und Anlaufstelle für Betroffene und Multiplikator:innen registrieren wir, mit welchem Bedarf Menschen uns kontaktieren. Lernangebote müssen zu den Lebensbedingungen der Zielgruppe passen. Wir bieten z.B. einen Tageskurs mit einem Umfang von 16 Wochenstunden und einen Abendkurs mit nur 6 Wochenstunden in den frühen Abendstunden. Insbesondere dort ist individuelles Arbeiten zentral, da die Teilnehmenden durch Schichtdienst und andere Faktoren aus ihrem Erwerbsleben nicht immer regelmäßig teilnehmen können. Dadurch, dass wir durch die Abendkursteilnehmenden direkt oder indirekt in Kontakt mit deren Arbeitgeber:innen stehen, wirkt die „Mundpropaganda“ hier nicht nur im privaten Umfeld, sondern in die Unternehmen hinein.

Entscheidend ist es, ein passendes Angebot zu haben, zu entwickeln oder ein passendes Angebot zu kennen, in das weitergeleitet werden kann. Das erfordert im Vorfeld viel Engagement, Informationen und Kenntnisse, Gespräche und insgesamt ausreichend personelle und finanzielle Ressourcen.

Wie erheben Sie den Lernbedarf Ihrer Zielgruppen?

In einer Kursberatung vor der Teilnahme erfragen wir Eckdaten zu Vorkenntnissen, Infos zum Schulbesuch und Berufserfahrung und Wünsche bezüglich des Lesen und Schreiben Lernens. Teil dieser Kursberatung ist ein Schreibtest, der uns eine erste Vorstellung von den Schreibkenntnissen der Person vermittelt.

Im Laufe des Kurses erheben wir den Lernbedarf kontinuierlich. Dies geschieht durch Beobachtungen und Gespräche, sowohl auf individueller Ebene im Lesen, Schreiben und Rechnen, da alle sehr unterschiedliche Vorkenntnisse, Baustellen und Geschwindigkeiten mitbringen, als auch in den Lerngruppen, wo wir nach Bedarfen im Bereich Grundbildung und dem Umgang mit dem Internet sowie digitalen Medien fragen.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Teilnehmendengewinnung und wie gehen Sie damit um?

Eine große Herausforderung bei der Teilnehmendengewinnung ist, dass wir häufig nicht wissen, ob und wie unsere Werbemaßnahmen tatsächlich ankommen. Wir können die Personen, die sich nicht zu erkennen geben und sich nicht melden, nicht danach befragen. Mit den Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit sollen möglichst zwei Zielgruppen angesprochen werden: Multiplikator:innen und Betroffene. Es ist aber immer differenziert zu überlegen, wie jeweils Inhalt, Komplexität der Sprache und Layout eingesetzt werden sollen. Gerade in den sozialen Medien sind Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen meist eher Konsument:innen von Inhalten, treten aber nur selten in Interaktion – sei es durch ein Like, ein Teilen oder einen Kommentar. Das erschwert es, Rückmeldungen zu erhalten und Reichweite einzuschätzen. Dennoch halten wir unsere Präsenz in der digitalen Welt für wichtig, da sowohl unsere Erfahrungen mit den Teilnehmenden als auch die Studienlage zeigen: Gering Literalisierte nutzen soziale Medien. Regelmäßige Auswertungen unserer Follower:innen bieten uns zumindest eine kleine Orientierung.

Ebenso bleibt schwer nachvollziehbar, warum in bestimmten Phasen mehr Menschen den Weg zu uns finden als in anderen. Eine klare Bewertung einzelner Akquisewege ist dadurch kaum möglich. Wir wissen: Eine einfache Lösung gibt es hier nicht. Vielmehr ist es ein Dauerthema, dem wir uns kontinuierlich widmen – mit Offenheit für neue Ideen und mit dem Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen, die auch unser Feld beeinflussen.

Ein Vorteil, den wir in diesem Zusammenhang nutzen können, ist unsere langjährige Präsenz: Seit über 40 Jahren sind wir am selben Standort aktiv. Das hat uns in der Berliner Grundbildungslandschaft bekannt gemacht und verschafft uns Sichtbarkeit, von der wir bis heute profitieren.

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